Der Mut sich zu verhalten
Verden - Was kann man tun, wenn rechtsextreme Ideologien und Verhaltensweisen in der Nachbarschaft auftauchen oder sogar das eigene Kind in die rechte Szene abzurutschen droht? Antwort auf diese Fragen, die durch die steigenden Flüchlingszahlen zusätzlich an Aktualität
gewinnen, versuchte am Donnerstagabend Extremismusexperte Andrea Müller zu geben.
Der langjährige Leiter des Bremer Lidice-Hauses referierte auf Einladung des Kirchenkreistags-Ausschusses „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ im Gemeindezentrum am Plattenberg. Das Thema stieß auch bei jungen Leuten auf Interesse, viele Schüler saßen im Publikum.
Seit Anfang des Jahres habe es 187 offiziell gezählte Farb- und Brandanschläge mit rechtsextremistischem Hintergrund gegeben, berichtete Müller. Bei einigen seien sogar Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr beteiligt gewesen, ohne dass die Führungsebene davon gewusst hätte. Wie kann so etwas passieren? Die zurückliegenden Monate hätten gezeigt, dass Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die zuvor nicht durch rechte Gesinnung aufgefallen sind, sich nun aufgerufen fühlen, feindlich gegen Minderheiten aufzutreten. „Schon eine dunklere Hautfarbe ist oft Grund genug“, machte der Referent deutlich.
Der Grund sei, dass Rechtsextremismus eine „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ sei. Laut einer Studie des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld erstreckt sich die Ungleichwertigkeit nicht nur auf Ausländer. Feindbilder können ebenso Obdachlose, Homosexuelle oder Behinderte sein. Diese „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ führe dazu, dass in der Mitte der Gesellschaft zunehmende Gewaltbereitschaft herrscht oder Gewalt akzeptiert wird.
Aber wie reagiert man nun auf Rechtsextremismus? „Menschen, die unsicher sind, was sie denken sollen, neigen dazu, sich nicht zu verhalten“, erklärte Müller. Auf diese Weise könne sich die Menschenfeindlichkeit ausbreiten. Hier seien auch die Eltern, Lehrer, Schulleiter und Politiker, gefordert. „Wenn die Akteure sich klar positionieren, kann sich Rechtsextremismus nicht so schnell ausbreiten.“ Besonders seine jungen Zuhörer ermutigte der Experte, nicht wegzusehen, wenn sie mitbekommen, dass jemand schlecht behandelt wird. „Mut entwickeln, sich zu verhalten“, nannte er das.
Doch wie verhält man sich, wenn das eigene Kind plötzlich mit Rechtsextremen sympathisiert? „Die Rechten haben eine gute Werbestrategie“, weiß Müller. Einen Teil der Schuld habe auch die öffentliche Hand, die Angebote für Jugendliche immer weiter abbaut. „So entsteht ein Vakuum, und man muss sich nicht wundern, wenn es Jugendliche attraktiv finden, dass man sich um sie kümmert.“ Fatal sei ebenso, wenn Jugendliche den Eindruck hätten, dass die Demokratie für sie „irgendwie verloren“ sei, wenn sie glauben, dass sie kein Gehör finden. „Wenn wir keine intakte Bindung zur Demokratie haben, ist die Gefahr, auf andere identitätsfördernde Angebote einzugehen größer.“ Auch der Rückhalt in der Familie sei wichtig, betonte Müller. Wer zu Hause anerkannt ist und sich geborgen fühlt, ist längst nicht so anfällig für die Angebote der rechten Seelenfänger. Ahk Quelle: VAZ
Foto: Die Veranstalter vom Kirchenkreistags-Ausschuss mit dem Referenten (v.l.): Thomas Ziegert, Sonja Bohl-Dencker, Andrea Müller, Sabine Lehnhoff und Wilhelm Timme.
8. Oktober 2015